News

Zerstörung des Kulturerbes

20.04.2015

Von den Jugoslawien-Kriegen bis zum jüngsten IS-Bildersturm in Mossul

Gastkommentar, Wiener Zeitung, 20. April 2015

Von Friedrich Schipper

   

Was sich in den vergangenen Tagen im Museum von Mossul und an verschiedenen bedeutenden archäologischen Stätten im Nordirak ereignet hat, hat es, wie schon der Feuersturm durch den Bazar von Aleppo und einige andere fatale Zerstörungen des kulturellen Erbes in Syrien und dem Irak in den vergangenen Jahren, sehr rasch in die Medien rund um die Welt geschafft. Der aktuelle Bildersturm der radikalislamischen IS im Museum von Mossul und die anderen Zerstörungen lassen sich mit den herkömmlichen Normen des humanitären Völkerrechts aber schlecht fassen. Die Zertrümmerung der Skulpturen im Museum und anderenorts hat einige Kommentatoren sofort an die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die radikalislamischen Taliban erinnert, sie gleicht aber de facto zahlreichen Bilderstürmen der Geschichte durch alle Zeiten und Kulturen.
 

Mehr als nur eine Randerscheinung des Arabischen Frühlings

Was mit einem allgemein so bezeichneten Frühling in Tunesien im Dezember 2010 begonnen hat, hat sich in der Folge vielerorts in der arabischen Welt in eine herbe Enttäuschung, mancherorts in eine Katastrophe, in Syrien und im Nordirak in eine Apokalypse gewandelt. Spätestens seit der ersten Runde des arabischen Frühlings in Ägypten sind auch Plünderung und Zerstörung von kulturellen Einrichtungen und Kulturerbestätten ein gut beobachtbares und medial intensiv beschriebenes Phänomen, das als solches nicht mehr als Randerscheinung des so genannten Arabischen Frühlings oder seiner apokalyptischen Ausläufer bezeichnet werden kann. Genauso wie spezifische Formen sexueller Gewalt – insbesondere jene im öffentlichen Raum – oder grassierende Übergriffe gegen Menschen religiöser oder ethnischer Minderheiten – individuell oder kollektiv – ist die Zerstörung von Kulturgut als ein integraler Aspekt der Ereignisse und Entwicklungen zu werten. Der Übergang von der Plünderung und Zerstörung von Kulturgut im Kontext der Unruhen und des teilweisen Zusammenbruches der öffentlichen Ordnung im Rahmen des arabischen Frühlings hin zur Zerstörung von Kulturgut in Zuge von Kampfhandlungen wie im Krieg in Syrien oder retrospektiv im Krieg im Irak ist fließend und auch gegenüber den jüngeren kriegerischen Ereignissen in Libyen und Mali nicht sinnvoll abgrenzbar.

 

 

Die Reaktion der Staatengemeinschaft

Und so lässt sich ein größerer Beobachtungsbogen vom Ende der letzten großen Welle systematischer und nachhaltiger Zerstörung von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten inter-ethnisch inter-religiösen Charakters, jener in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo, und der entsprechenden Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft in Form des Zweiten Protokolls zur Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten im Jahr 1999 bis heute spannen. Der angesprochene Bogen spannt sich – jenseits der arabischen Welt beginnend – von der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan und vor allem des buddhistischen Kulturerbes verschiedenenorts in Afghanistan über die Plünderung des Nationalmuseums in Bagdad und zahlreicher anderer Museen, archäologischer Stätten und Kultureinrichtungen im Irak, den Plünderungen von Museen und archäologischen Stätten und den Brandschatzungen historischer Bauwerke in Ägypten im Kontext des Arabischen Frühlings, den Plünderungen historischer Sammlungen und Zerstörung historischer religiöser Bauwerke in Libyen v.a. nach dem Umsturz des Regimes, der Zerstörung des – primär islamischen – Kulturerbes von Timbuktu in Mali und der Plünderung und Zerstörung des Kulturerbes in Syrien und dem Irak im Kontext der Eroberungen der radikalislamischen IS. Darüber hinaus ist das Kulturerbe auch in manch anderen Ländern der Region in erhöhtem Maße von Plünderung bedroht, etwa im Libanon, Jordanien oder in den Palästinensischen Gebieten. Ein "gemeinsamer Nenner" zur Interpretation dieser Entwicklung lässt sich nur schwer darstellen, wohl aber lässt sich ein komplexes und diverses Bild der Situation zeichnen. Eine geeigneter Ausgangspunkt der Betrachtungen sind die normativen Grundlagen für den Kulturgüterschutz.

 

Die völkerrechtliche Grundlage zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten ist die angesprochene Haager Konvention, im Haupttext und mit einem Ersten Protokoll aus dem Jahr 1954, erweitert um ein Zweites Protokoll im Jahr 1999. Dieser völkerrechtliche Vertrag, durch den gegenwärtig 126 Staaten gebunden sind, darunter alle oben erwähnten Staaten, regelt die Definition und die Kennzeichnung von Kulturgut, den Schutz von Kulturgut durch Maßnahmen der Sicherung in Friedenszeiten und des Respekts im Krieg, die Implementierung der Normen in nationalen Streitkräften, Evakuierung von gefährdetem Kulturgut, Rückführung von geplündertem Kulturgut, Ahndung von Verstößen gegen die Normen bzw. Fragen der Gerichtsbarkeit, Strafverfolgung und Auslieferung u.v.m.

 

Das islamische "Doha-Statement" sollte eine größere Rolle spielen

Ergänzt wird diese völkerrechtliche Grundlage durch verschiedene andere internationale normierende Dokumente – für den arabisch-islamischen Raum besonders interessant und trotzdem wenig beachtet das "Doha-Statement" der "Conference of ‘Ulamâ [die Religionsgelehrten des Islam] on Islam and Cultural Heritage", die im Dezember 2001 von der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) in Kooperation mit der Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization (ISESCO) und der Arab League Educational, Cultural and Scientific Organization (ALECSO) in direkter Reaktion auf die Zerstörung der Buddha-Statuten von Bamiyan organisiert wurde; die Proceedings dieser Konferenz enthalten darüber hinaus eine Reihe potentiell wichtiger Erklärungen und Grundsatzvorträge.
 

Da das Konzept von Kulturgut und Kulturerbe, wie es der Haager Konvention und anderen UNESCO-Konventionen (1970: Illegaler Handel mit Kulturgut, 1972: Weltkulturerbe u.a.) zugrunde liegt, von islamisch-fundamentalistischen Gruppierungen oft als "westlich" wahrgenommen und konsequenterweise abgelehnt wird und die Zerstörung von Kulturgut wie z.B. den Buddhas von Bamiyan aber auch den Mausoleen von Timbuktu durch militante Islamisten eben damit begründet bzw. gerechtfertigt wird, dass die Idee von Kulturerbe als solches "westlich" und seine Verbreitung "imperialistisch" bzw. "kulturimperialistisch" sei, sollte dem Doha-Statement als grundlegendes Dokument islamischer Rechtsgelehrter und akademischer Experten zur Frage von Kulturerbe und seinem Schutz im zukünftigen internationalen Diskursen über den Schutz von Kulturgut in der arabischen bzw. islamischen Welt mehr Bedeutung zugemessen werden. Das Doha-Statement gewinnt dadurch Autorität, dass es im Namen aller drei Organisationen – UNESCO, ISESCO und ALESCO – publiziert worden ist, die jeweils für sich "das internationale, das islamische und das arabische Bewusstsein verkörpern".

 

Das Doha-Statement bietet mit Verweis auf "die Inspiration der Konferenz durch göttliche [gemeint: islamische] Lehre, internationales Recht und Völkergewohnheit" ein grundsätzliches Bekenntnis "zum Kulturerbe als einen entscheidenden Faktor für den Schutz der Identitäten der Zivilisationen und den kulturellen Besonderheiten von Völkern und Nationen, das diese mit den grundlegenden Voraussetzungen für ihre Beständigkeit und Unverletzbarkeit ausstattet" und misst dem Kulturerbe "eine sichernde Funktion im Wohlergehen der Menschen" sowie dem "Schutz dieses Kulturerbes in all seiner Vielfalt einen kulturellen Wert der Humanität" zu und definiert als Gefährdungspotentiale für das Kulturerbe nicht nur Kriege und Feindseligkeit, sondern explizit auch ein "Missverstehen der Religion", kritisiert also grundsätzlich das religiös-islamische Begründen von Kulturerbezerstörungen.

 

"Tolerante Natur des Islam fordert Respekt für jegliches Kulturerbe"

Das Doha-Statement betont, dass "die tolerante Natur des Islam einen Respekt für das Kulturerbe allgemein von jedem Muslim einfordert, unabhängig von den Quellen, Formen und Manifestationen" des Kulturerbes und verweist diesbezüglich auf die lange Geschichte des Islam, in der Muslime kulturelles Erbe in all seiner Vielfalt, und gerade auch vorislamisches Kulturerbe, stets bewahrt haben und nur dadurch überhaupt ein Gutteil auch des vorislamischen Kulturerbes der Welt bis heute erhalten geblieben ist. Die Bewahrung des kulturellen Erbes in all seiner Vielfalt wird als genuin islamischer Wert und als grundsätzliche islamische Position definiert, die direkt "aus der Achtung immanenter menschlicher Werte und dem Respekt vor dem Glauben anderer" resultiert.

 

Die Konferenz der ‘Ulamâ verabschiedete schließlich als Kern des Doha-Statements "folgende Empfehlungen:
- Den kulturellen Werten in Bildungscurricula und in den Medien größere Aufmerksamkeit zu widmen; - Die Medien und alle damit befassten Personen und Parteien zu ermutigen, den Wirkungsbereich des positiven Zugangs zum Islam und der islamischen Kultur und Zivilisation zu verbreitern und dabei den Inhalt dieses Statements entsprechend abzubilden; - Die Notwendigkeit eines Dialogs der Kulturen und Zivilisationen auf Basis gegenseitigen Respekts und der Toleranz zu betonen, und zwar in Übereinstimmung mit den Geboten des Koran and der Sunna des Propheten bezüglich der Anerkennung des Anderen und eines Dialogs basierend auf Weisheit, wohlwollender Ermahnung und herzlicher Disputation (vgl. den Annex zu diesem Statement [Verweise auf Koransuren]); - Den drei Organisationen ihre Bemühungen fortzusetzen, Kulturerbe zu schützen und die Rückgabe gestohlenen Kulturguts zu sichern. […]"

 

Das Doha-Statement macht Mut, zeigt es doch, dass man sich in der islamischen Welt mit dem Problem offensiv auseinandergesetzt hat und weiterhin tut. Doch die Realität entmutigt, wenn man den Lauf der Ereignisse seit Dezember 2001 bis heute analysiert. Nichts bringt das Kulturerbe zurück, das in den vergangenen Tagen im Museum von Mossul im religiösen Wahn zerstört worden ist. Und wahrscheinlich bleiben von den Kulturlandschaften Syriens und des Nordirak nur mehr Trümmer übrig; und wahrscheinlich bleiben viele dieser Landschaften – auch deshalb – für immer von ihren kulturellen, ethnischen und religiösen Minderheiten gesäubert. Im Krieg in Syrien und dem Irak versagen alle klassischen völkerrechtlichen Normen und auch grundlegende islamische Übereinkünfte bleiben völlig wirkungslos. Das ist in vielen Kriegen der jüngeren Geschichte, eben gerade bei ausufernden internen bzw. asymmetrischen Konflikten, zu beobachten und dieses Faktum ist in sämtlichen künftige Überlegungen zu diesem Thema zu berücksichtigen und nicht mehr zu ignorieren, wie wir es auf dem akademischen, diplomatischen und politischen Parkett allzu gerne tun. Es reicht nicht, völkerrechtliche Normen zu entwickeln, wie das in den letzten Jahren sicherlich viel und gut geschehen ist. Es geht darum, diese Normen global wirkungsvoll zu implementieren. Und daher ist globale Akzeptanz diesbezüglich ein wesentlicher Schlüssel, denn noch immer wird humanitäres Völkerrecht oft als ein Aspekt eines westlichen Imperialismus abgelehnt, wie das gerade eben auch jene Islamisten zum Ausdruck bringen, die gerade in Mossul wüten; doch sie stehen mit diesem Vorurteil nicht alleine da. Hier besteht offensichtlich enormer Aufholbedarf. Entsprechende Perspektiven müssen erst gesucht werden, über weite Strecken scheinen noch nicht einmal die richtigen Fragen dafür gestellt. Wir müssen also lernen, neu zu denken. Endlich. Rasch.

 

Friedrich Schipper ist Professor für Kulturelles Erbe und Kulturgüterschutz an der Paneuropäischen Universität Bratislava, Dozent an der TU Brandenburg und Lektor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Er ist Generalsekretär der UNESCO-affiliierten NGO "Blue Shield".

http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/?em_cnt=738394&em_c...